Geschichte greifbar machen
Wohl nur wenige Menschen kennen Gengenbachs Gassen und Winkel so gut wie Heiner Müller: Tags ist der 63-Jährige als Briefträger in den Straßen unterwegs. Doch wenn der Abend anbricht, schlüpft er in seine mittelalterliche Uniform mit Hellebarde, um von Mai bis Ende Oktober als Nachtwächter interessierte Besucher durch die Stadt zu führen.
Müller ist einer von drei Gengenbacher Nachtwächtern. „Früher war der Nachtwächter Polizist und Feuerwehrmann zugleich. Er war bis morgens um 5 Uhr unterwegs und beschützte die Menschen und ihre Häuser“, erzählt Heiner Müller. Heute hat er eine andere Aufgabe: Als Nachtwächter nimmt er die Menschen mit auf einen abendlichen Rundgang durch die historische Altstadt und erzählt aus Gengenbachs Vergangenheit. „An den elf Stationen, die wir anlaufen, sang der Nachtwächter früher sein Stundenlied“, sagt Müller. Das machen die Nachtwächter auch heute noch.
Im Jahr 1995 hatte die Gastgebergemeinschaft die Nachtwächtertradition wieder aufleben lassen, und schon damals interessierte sich Heiner Müller für die ehrenamtliche Aufgabe. Historie hatte ihn bereits in der Schule fasziniert, dazu kamen seine Heimatverbundenheit und sein Traditionsbewusstsein. „Ich liebe die Stadt einfach.“
Allerdings war er damals noch mit Hausbau, Beruf und seinem Engagement in anderen Vereinen ausgelastet. Trotzdem besorgte er sich für die Fasend Hellebarde und Nachtwächter-Kostüm, um so verkleidet am Umzug teilzunehmen.
Der Auftritt blieb im Gedächtnis: Nach dem Tod eines der beiden ehemaligen Nachtwächter sprachen ihn die Verantwortlichen an, ob er die Aufgabe nicht übernehmen wolle. „Für die Saison 1997 habe ich mich dann überreden lassen“, erinnert sich Müller und schmunzelt. „Und es ist wirklich eine ganz tolle Sache. Es macht Spaß, den Leuten über die Geschichte Gengenbachs zu erzählen.“
2022 feiert Heiner Müller sein 25-jähriges „Dienstjubiläum“ als Nachtwächter – und zwar ganz groß: Im übernächsten Jahr findet in Gengenbach vom 26. bis 29. Mai das Europäische Nachtwächter- und Türmerzunfttreffen statt.
Wer in der Adventszeit mit dem Nachtwächter die Stadt entdecken möchte, muss sich für den Rundgang zuvor anmelden. Gerade in diesen Tagen erstrahlt Gengenbach in einem besonderen Glanz – seit vielen Jahren geprägt durch den Adventsmarkt, der diesmal leider abgesagt werden musste. Stattdessen können sich Besucher und Einwohner auf dem neuen „Advents- und Weihnachtsweg zum Gengenbacher Adventskalender“ auf die besinnliche Zeit einstimmen und in diesem Rahmen die einmalige Atmosphäre in der Stadt genießen.